Churerdeutsch

Allgemein

 

Churerdeutsch ist die Sprache, die in Chur gesprochen wird. Es handelt sich dabei um einen alemannischen Dialekt, der auf einem Bündnerromanischen Substrat gewachsen ist. Der Begriff "Churerdeutsch" wird in der alemannischen Schweiz oft auch als Bezeichnung für die alemannischen Dialekte im Churer Rheintal und im Domleschg im Allgemeinen verwendet, auch wenn das eigentlich nicht zutreffend ist. Selbstverständlich wies jede Ortschaft einen eigenen Dialekt auf. Oft wird Churerdeutsch auch mit "Bündnerdeutsch" gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist aber problematisch, da in Graubünden mit den Walserdialekten und dem südbairischen Samnaunnerdeutsch auch Dialekte gesprochen werden, die stark von den Dialekten im Churer Rheintal abweichen.

 

Typische Merkmale des traditionellen Churerdeutsch

 

Für den südalemannischen Dialekt von Chur kann aufgrund der Angaben des Sprachatlasses der deutschen Schweiz SDS die folgende Merkmalkombination als typisch angesehen werden:

 

- Anlautendes kh- (immer noch aktuell)

         z.B. Khuur ‚Chur’, Khanoona ‚Kanone’

 

- Inlautendes -hh- (nur noch selten verwendet)

         z.B. suahha, flüüha ‚suchen, fliehen’

 

- Inlautendes -gg- für alemannisches -kch- (immer noch aktuell)

         z.B. tengga, fligga ‚denken, flicken'

 

- zweisilbige Verbformen (nur noch selten verwendet)

         z.B. si müassand, si züchand ‚sie müssen, sie ziehen’

 

- vokalischer Konjunktiv mit hei / sei / tei  bei ,haben, sein, tun’ (nur noch selten verwendet)

         z.B. är hei Hunger, si sei krank, si heiand Turscht ‚er habe Hunger, si sei krank,

         er habe Durst’

 

- volltonige Wortendungen in -a , a-Färbung von Schwa, helle -a- im Wortinneren (immer noch aktuell)

         z.B. macha,  singa, Bruadar ‚machen, singen, Bruder’

 

- Diphthong -ei am Wortende (als –ei, nicht –ai ausgesprochen) (immer noch aktuell)

  z.B. Polizei, drei ‚Polizei, drei’; neu auch Polizai, drai 

 

- Brechung von mittelhochdeutschem î in miar (immer noch aktuell)

  z.B. miar wend viar Piar ‚wir wollen vier Bier’

 

- Dehnung von Vokalen in offener Silbe (immer noch aktuell)

  z.B. dr Oofa, sääga, flüüga ‚Ofen, sagen, fliegen’

 

- Steigerung mit uu- (immer noch aktuell)

  z.B. as isch uu-guat gsii ‚es ist sehr gut gewesen’

 

- Romanische Strukturen und Relikte (nur noch selten verwendet)

  z.B. passivisches ‚kommen’: i khumma varuggt
  z.B. Reliktwörter: Malùns,  Capùns, Palöögali (Menüs und Lebenmittel)

  z.B. Felschperg für Felsberg’; s vor Konsonant wird zu sch

 

- relativ langsames Sprechtempo (immer noch aktuell)

 

  

Geographische Situierung

 

Die Stadt Chur ist die Hauptstadt des Kantons Graubünden in der Schweiz. Sie liegt am Rhein. Folgt man dem Rhein stromaufwärts findet man im Westen Churs rechtsrheinisch die Ortschaft Domat/Ems, die immer noch Reste des ursprünglichen Romanisch aufweist, das typähnlich wohl auch in Chur gesprochen worden ist (Sutsilvan)Chur liegt damit an der rätoromanischen-alemannischen Sprachgrenze.

Folgt man dem Rheinlauf talauswärts, findet man im Osten Churs verschiedene Ortschaften, deren Dialekt dem Churer Dialekt ähnlich ist.

Das typische aspirierte anlautende kh- für an sich im Alemannischen lautverschobene ch- teilte die Churer Mundart mit den Dialekten von Maienfeld, Fläsch, Malans, Thusis, dem Fürstentum Liechtenstein und dem Vorarlberg. Heute ist die kh-Lautung im ganzen Churer Rheintal, im Domleschg und auch im Alemannisch der Rätoromanen verbreitet.
Von Chur aus gelangt man ins Schanfigg und ins Churwaldnertal, wo Walsermundarten gesprochen werden.
 

 

Sprachliche Situierung

 

Im Kanton Graubünden wird im Churer Rheintal ein churer-rheintalisches Alemannisch gesprochen. Daneben gibt es mit den Walser-Dialekten auch eine höchstalemannische Variante des Alemannischen. Im ehemals romanischen Samnaun gar wird seit etwa 100 Jahren ein südbairischer Dialekt gesprochen.

Im Romanischen des Kantons Graubünden unterscheidet man das Sursilvan, das  Sutsilvan, das Surmiran, das Vallader und das Puter. Seit 1980 gibt es dazu noch die einheitliche Schriftstprache Rumantsch Grischun. In den Südtälern Poschiavo, Bergell, Calanca und Mesocco werden alpinlombardische (italienische) Dialekte gesprochen, die Standardsprache ist Italienisch.

 

Aus dieser sprachlichen Konstellation des Kantons Graubünden heraus ist auch zu verstehen, dass in der Hauptstadt Chur Einflüsse aller Kantonssprachen anzutreffen sind. Man darf aber nicht von einem sprachlichen Mischmasch sprechen.

Chur ist die Gemeinde, die am meisten romanischsprachige Einwohner des Kantons aufweist.

 

Sprachlich relativ unerforscht ist, welche Sprache diejenigen Personen sprechen, die nicht eigentlich churerdeutscher Muttersprache sind, aber eine Art Churerdeutsch einsetzen. Das Alemannisch der Rumantschia wird derzeit von mir im Rahmen eines Projekts des Instituts für Kulturforschung Graubünden untersucht.

  

Sprachgeschichte

 

Chur war noch lange Zeit romanischsprachig und wies damals ein Romanisch auf, das heute als Sutsilvan klassizifiziert würde. Erst ab Mitte des 15. Jahrhunderts wird in Chur mehrheitlich alemannisch gesprochen.

Der Sprachwechsel hat verschiedene Ursachen: Zuwanderung, Änderung der politischen Machtverhältnisse, Sprachprestige etc. In einigen Publikationen wird auch der Stadtbrand von 1464 als Argument für den Sprachwechsel aufgelistet. Die Menge der zugezogenen deutschsprachigen Handwerker habe den Todesstoss für das Romanische ausgelöst.

 

 

Älteres Textbeispiel (Transkription einer historischen Aufnahme)

 

Christina Zinsli-Saluz : Khuurer Originaal

 

Ärgera hät er sich den müassa, wenn im d Puaba das Schprüchli nòògrüaft hend, wo si grad für in gmacht hend:


Dr Toni Jeckli(n)
hät sibzäha Schwii 

und achtzäha Gaiss


und khaini sind faiss.


Denn isch är den elend ertaubet, hät si Bääsa knu und isch denna Schlingla nohagwaiblat. Das hends natürli grad wela, den si ... khaina ... är hät nia aina kriagt.


Dr Toni hät si(ch) sus gäära bi dr Arbet a bitz vertwiilat und a bitzli um- magschwätzt. Und psunders d Offiziar sind siini Fründ gsii. Zum khönig- lich-khaiserlicha Oberfeldzeugmaischter von Salis, wo im Salishuus in dr Poschtschtroos ufkwaksa-n-isch und mit am Toni sogär in d Schuel ggange- n-ischt, dem hät er den öpa uf dr Schtròòs gsait: „Jo, jo, du Daniel häsch as witer pròòcht as ii!“ Wenn er aber vu siim Fründ Salis ggredt hät, denn hät er nu gsait - nu: „Dr Züghusverwalter Salis.“

An andera Herr isch amòòl khoo und hät im adjö sääga wella, dem Toni, und hät gsait: „So, jetz gooni go Bern haim. Und wenn du Toni amòòl au döt abkhusch, denn khum mi denn go psuacha.“ Dä hät aber nit lätz gluagat, wo dr Toni würkli anmòòl z Bern vor siiner Tüür kschtanda-n-isch. „Jo Toni, was tuesch denn du dòò?“, hät er gsait. - „I bin uf dr Hochzitsrais.“ - „Und wo häsch denn diini Frau gglo?“ - „Dia hanni dahaim gloo. Für zwai z raisa isch es z tüür!“

Waisch wär d Rhäzünser Schluanza ksi isch? A khliins, verhutzlats Wiibli mit ara langa schpitziga Naasa, an armi Gguttera. Vo Rhäzüns isch si in d Schtadt aabakhoo, z Fuas natüürli, Iisabaan hemmer dua no khaini kha. Am Aarm hät si immer a Khorb volla Aier kha, Aier, wo-n-era am Wääg öppa begegnat sind. Grad knao hät sis halt nia kno. Khlaider hät si akhaa - phüatis – natüürli alles zemmapättlati. So isch si sogäär amool mit ama langa Schläppakhlaid vu üüsarer groossa Leerari dur d Schtadt gwaiblat. Vorna hät sis ufakheftat kha, sus wäär si natüürli drübargschtolparat. D Schläppa-n-aber hät si hinna-nooha-zooga und drmit Khuurer Schtròòsa gwüscht, bis nu me d Fätza dra gsi sind. – Aber ao a Schaar Khuurer Goofa sind immer um si umma ksi und hinter era häära. Mit dena hät si gmuulet. Und je mee si gmuulet hät, um so schööner ischs halt gsii.

Dia Härra Advokaata Ganzoni und Calonder, dää wo schpööter Bundesròòt khoo isch, hen grad iara Büro òfatua. Dòò khunt as erschta Khunda ama Morga d Rhäzünser Schluanza zur Tür iina. Si hät halt wella am rächta Ort dia Khuurer Goofa go verklaaga.

Jòò du Rhäzünser Schluanza und iar alli alti luschtigi Mennli und Wiibli, iar hend halt doch zum lieba-n-alta Khuur khöört.

Das hemmer z Khuur uufknuu am füfta Jänner Nünzehundertfufzg. 

 

Kommentar zum Text


Der Text stammt von einer Originalaufnahme, die von Prof. Paul Zinsli 1950 erstellt worden ist. Bei der Sprecherin handelt es sich um dessen Mutter. Der Text spiegelt ein Churerdeutsch, wie es etwa um 1890 gesprochen worden ist.

 

Gegenüber dem heutigen Churer Dialekt weist die Sprache von Frau Zinsli einige Abweichungen auf.

Auf der Ebene der lautlichen Ausgestaltung ist etwa Folgendes zu erwähnen:
 Die Gewährsperson wechselt bei der Aussprache von ‚ch‘ zwischen h, weichem ch und krachenderem ch; weist hier also eine grosse Variationsbreite auf. In phonetischer Schrift sind diese Varianten mit den Zeichen [h, ç, x] wiederzugeben. Dieses Phänomen vermittelt der Mundart von Frau Zinsli etwas Weiches, etwa in Wörtern wie Sprühhli, sibzäha, nòhagwaiblet etc.

Früher wurde im Churer Dialekt zwischen langem offenem üü und langem geschlossenem üü unterschieden, und zwar so, dass diese Unterscheidung zur Differenzierung zwischen Wörtern genutzt werden konnte. Bei Frau Zinsli zeigt sich dies noch deutlich im Wortpaar tüür - Tüür. Die offene Qualität meint ‚teuer‘, die geschlossene ‚Türe‘. Im heutigen Churerdeutsch wird in der Regel aussprachemässig nicht mehr unterschieden. Statt Tüür wird oft Tüüra eingesetzt, was die Unterscheidung tüür - Tüür überflüssig macht.

Die für die Churer Mundart so typische a-Haltigkeit in den Endungen taucht auch bei Frau Zinsli auf, allerdings reicht die Variantenbreite von kaum hörbarem [ ə] kontinuierlich bis zu verschiedenen a-Schattierungen.
 Der Doppellaut in ‚Frau‘ wird von Frau Zinsli als ao realisiert. Die o-Haltigkeit des zweiten Diphthongelements taucht heute kaum mehr auf.

Für ‚heim‘ setzt Frau Zinsli haim mit m am Wortende. Offenbar wurde die heute geläufige Form ohne m als unfein empfunden, wie einer Publikation ihres Sohnes Paul Zinsli entnommen werden kann.

Die Perfekt-Verbform ‚wir haben aufgenomen‘ lautet bei Frau Zinsli: das hemmer uufknùù, und nicht wie heute üblich uufknoo oder moderner auch uufknòò. Damit ist die Mundart der Gewährsperson noch nahe an den Formen der Bündner Herrschaft.

Vom Wortschatz her ist auffallend, dass Frau Zinsli noch die doppelsilbigen Varianten einsetzt, wo heute in der Regel die einsilbigen Formen Überhand gewonnen haben. ‚Siebzehn‘ lautet entsprechend sibzäha und nicht sibzeen; nòha-gwaiblat und nicht nòògwaiblat. Am Anfang unseres Beispiels allerdings setzt auch Frau Zinsli schon ein einsilbiges nòògrüaft statt nòhagrüaft.

In der Bezeichnung der Richtung braucht Frau Zinsli go Bern, was heute von älteren Gewährspersonen allenfalls noch mit uf Bern und von jüngeren Churerinnen und Churern in der Regel mit nòch Bern realisiert wird. Es heisst im Text auch: wenn au döt aabakhunsch; für die Churer war/ist offenbar alles, was aus dem Churer Rheintal herausführt mit „unten“ gleichgesetzt, unabhängig davon, wie hoch sich die Ortschaften effektiv befinden und ob sie nördlich oder südlich von Chur liegen.

Im Vokabular von Frau Zinsli tauchen einige Wörter und Ausdrücke auf, die heute nicht mehr so geläufig oder eher von anderen Dialekten her bekannt sind: 

 

faiss für 'fett'
ertauba für 'böse werden'

sich vertwiila für 'Pause machen'

d Schluanza für 'schlecht gekleidete Person'

a Gguttera für 'Flasche'

bis nu mee für heute nu no

 

Als weitere Besonderheiten sind zu erwähnen:

Khlaider hät si khaa, alles zämapätlati. Es handelt sich hier natürlich um einen Einzelbeleg, dessen Aussagekraft nicht so eindeutig ist. Es ist aber doch erstaunlich, dass das Adjektiv hier dekliniert wird wie in den Walser-Dialekten. Heute würde man eher sagen: Khlaider hät si khaa, alles zemmapätlat. 

Dä, wo Bundesròòt kho isch. Die Passiv-Form wird hier mit Selbstverständlichkeit nach romanischem Muster gebildet: är isch kho heisst ‚er wurde‘.

 

Neueres Textbeispiel

 

Quatsch mit Sossa

Imana so-n-a Khonsumenta-Heftli lääsi, dass a Tschuppa Täschtässer Fertig-Tomata-Soossa deguschtiart hät. - Ds Positiva zeerscht: dia Tomaata-Soossa sind us Tomaata gmacht - und daas ooni Uusnaam. Und as schtoot in dem Täschtpricht au nüüt dinna, dass ma Rattaschwenz oder Hundedrägg drii gfunda hei.

Trotz allem aber hend dia Soossa im Urtail vu da Täschtässer zum Tail hundsmiseraabel abgschnitta. Dia ainta Soossa seiand zwoor durchuus ääsbar, haissts, dia andera aber schmeggandi vu fuulam Khartoon, gsächandi uus wia schu amool ggässa, heiandi a pittara Gschmack oder seiandi z süass wia Kätschöp.

Ii bin natüürlich froo, dass i noch nia so-n-a Widerkhäuer-Soossa verwütscht han. Aber i sääga-n-eu, das isch raina Zuafall.

Ds eerschta persöönlicha Fazit für mii isch nemmli daas: Uf da Priis khamma au bi da Fertig-Soossa nit goo. Dia zwai tüürschta Soossa sind dia zwai grüüsigschta. Und dia zwai beschta khoschten khai Vermööga.

Ds zwaita persöönlicha Fazit für mii: dia aigna Soossa sind immer noch dia beschta, säb hanni aber vorhäär schu gwüsst.

Ds dritta persöönlicha Fazit: Wemma das Khonsumenta-Heftli a Siita witer blätteret, denn gsiat ma, dass bim Täscht vu da Tusch-Scheel siba vu zäha Produkt guat bis seer guat abschniidand. Drum tuan ii in Zuakhumpft bimana schpoontaana Hunger gschiider as Tusch-Scheel uf d Taigwaara als a Fertig-Soossa.                                                                 Eura Osci

 

14.9.2000

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