Sprachenvielfalt im Bergell
Wird im Bergell bald nur noch Schweizerdeutsch gesprochen?
Kürzlich (1998) ist eine Studie zur sprachlichen Situation im Bergell erschienen. Sandro Bianconi zeigt darin deutlich die schwierige Situation auf, die sich für die Bergeller Bevölkerung im Übergangsgebiet zwischen Deutsch und Italienisch ergibt.
Von Oscar Eckhardt
Welche Sprache spricht man eigentlich im Bergell? So einfach die Frage für die deutschsprachige Bevölkerung auch klingen mag, so komplex zeigt sich sprachliche Wirklichkeit. Anhand 53 ausführlicher Interviews und Hintergrundsstudien zur Soziolinguistik, zur Sprachgeschichte und zur Einstellung der Bergeller Bevölkerung zu ihrer Sprache zeichnet Sandro Bianconi ein differenziertes Bild der Bergeller Sprachsituation, die vom Übergang vom Deutschen ins Italienische geprägt ist.
Mehrsprachigkeit im Alltag
Was die gesprochene Sprache betrifft, dominiert im Bergell erwartungsgemäss der Bergeller Dialekt ("Bregagliotto" ), der von allen Einheimischen in allen Situationen gesprochen werden kann. An zweiter Stelle aber taucht nicht etwa das Standard-Italienische auf, sondern das "Schwyzerdütsch", das mehr oder weniger von allen Erwachsenen verstanden und gesprochen wird. Spätestens mit Beginn der Berufsausbildung nämlich ist die Bergeller Bevölkerung gezwungen, in den deutschsprachigen Sprachraum zu gehen, um die notwendigen Schulen zu besuchen.
Bianconi weist in seiner Studie klar darauf hin, dass vielfach die Anwesenheit einer deutschprachigen Person den Wechsel vom Bregagliotto ins Schwyzerdütsch auslöst, dass aber bisweilen auch ganz spontan zwischen zwei Bergellern deutsch gesprochen werden kann. Vor allem in Maloja komme es vor, dass ganze Sitzungen von Sportvereinen etc. in Schwyzerdütsch durchgeführt werden.
An dritter Stelle im Sprachgebrauch taucht das Standard-Italienisch auf, dies sowohl bei den italienischsprachigen Einheimischen als auch bei den Zuzügern, die nicht Schwyzerdütsch sprechen.
Die letzte Sprache, die von allen Bergellern verstanden und zu einem grossen Teil auch gesprochen wird, ist eine abgeschwächte Form des Bregagliotto, die sich an die Puschlaver-, Veltliner- und Tessiner-Dialekte anlehnt und im Tal vielfach als "Lombardo" bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um einen Dialekt, der die eigenwilligsten Züge des Bregagliotto zu Gunsten einer grösseren Verständlichkeit im Umgang mit den Veltliner Nachbarn vermeidet.
Diese vier Sprach-Codes werden je nach Situation mehr oder weniger bewusst eingesetzt, wobei die Einsatzgebiete ziemlich deutlich unterschieden werden können.
Ist die Italianità bedroht?
In den Schlussfolgerungen seiner Studie zeigt Bianconi deutlich, dass die Italianità im Bergell mit der Ausnahme von Maloja nicht akut gefährdet ist. Er bezeichnet die Situation aber als "condizione di debolezza", als Schwächezustand also. Und er kann auf eine ganze Serie von Ursachen dazu verweisen. Um nur einige zu nennen: die periphere Lage des Bergells, die sprachlich eher eine Ausrichtung ins Veltlin erwarten liesse, aus politischen Gründen aber in den Norden zeigt; der Mangel eines eigentlichen Zentrums im Bergell; der Unterbruch in der Schulung des Italienischen, da die weiterführenden Ausbildungen im Wesentlichen im deutschen Sprachraum erfolgen; die pragmatische Hinnahme der sprachlichen Zustände mit mangelndem Selbstbewusstsein der eigenen kulturellen Identität.
Bianconi unterstreicht in seinen Schlussfolgerungen die ausserordentliche Bedeutung der Schule, die im Bergell dazu führt, dass die Kinder der Zuzüger gut ins Italienische integriert werden, was letztlich zu einer Stärkung des Standard-Italienischen führe.
Für Maloja hingegen sehen die Aussichten nach Bianconi nicht so gut aus. Er spricht hier von einer Bedrohung des Italienischen durch das Deutsche, und er befürchtet hier einen neuen "Fall Bivio", der sich ohne politische Einflussnahme auch auf das ganze Bergell ausweiten könnte.
Bianconi weist insbesondere darauf hin, dass das ganze Bergell jetzt den vorhanden Goodwill und die rechtlichen Mittel ausschöpfen sollte, um die Zweisprachigkeit bewusst zu fördern, dies insbesondere auch in den weiterführenden Schulen. Denn man müsse die Situation im Bergell heute als Zweisprachigkeit bezeichnen, dies eine Tatsache, der sich viele Bergeller oft gar nicht so richtig bewusst seien.
Sandro Bianconi: Plurilinguismo in Val Bregaglia. Osservatorio linguististico della Svizzera italiana. ("Il cannocchiale" 3). 1998. Vertrieb durch Armando Dadò Editore, Locarno. Preis: 20 Fr.
PS: Inzwischen gibt es eine neuere Publikation zum Thema.
Picenoni, Mathias (2008): La minoranza di confine grigionitaliana. Confini soggettivi, comportamento linguistico e pianificazione linguistica. Bündner Monatsblatt. Chur. (= Cultura alpina)