Sehr geehrter Herr Eckhardt,
im Rahmen eines sprachwissenschaftlichen Seminars beschäftigen wir uns mit Wortbildungsmustern in germanischen Sprachen. Ich interessiere mich dabei insbesondere für das Schweizderdeutsche und stolpere immer wieder über Ausdrücke wie "huarageil/ huara geil", "huarakrass/ huara krass", "huaraschön/ huara schön" (... diese Kette könnte jetzt beliebig so weiter gehen). Bislang habe ich diese Ausdrücke vor allem nur mündlich gehört. Inzwischen habe ich –wenn auch eher selten – "huarageil" und "huarakrass" sogar zusammen geschrieben gesehen. Das wäre für die Wortbildung ein ganz spannendes Feld. Das könnte ja bedeuten, dass sich "huara-"... allmählich als Präfix herausstellt und vielleicht die Stellung eines Affixoids einnehmen könnte. Was halten Sie von dieser These? Ist das totaler Quatsch? Würde die Mehrheit "huara geil" nach wie vor getrennt schreiben oder lässt sich langsam ein Trend zur Zusammenschreibung erkennen? Ich freue mich auf Ihren Kommentar und bin schon sehr gespannt.
Vielen herzlichen Dank!!!
Sehr geehrter Herr L. bzw sehr geehrte Frau L.
Das Lexem Huara/huara hat im Churer Dialekt und auch in anderen schweizerischen alemannischen Dialekten, insbesondere auch in den Walliser Dialekten, neben der ursprünglichen Bedeutung ‚Hure’ auch eine verstärkende Funktion. Die Verstärkung kann dabei sowohl positiv als auch negativ sein.
Das isch huara guat! ‚Das ist extrem gut!‘
Dä Film isch a huara Saich. ‚Dieser Film ist absolute Pisse!‘.
Manchmal kann Huara/huara wohl eher als Teil eines Kompositums gesehen werden, manchmal eher als Adjektiv, manchmal aber, und das ist tatsächlich spannend, nimmt es einen Zwischenwert ein, ist halb Kompositum, halb Präfix: Wenn ich mich nicht täusche, wird vor allem in der französischsprachigen Literatur dann auch von Präfixoid gesprochen.
Diese Zwischenstellung zeigt sich insbesondere auch in der folgenden Konstellation:
Zur Verstärkung kann im Churer Dialekt (und im Churer Rheintal überhaupt) das Präfix uu- vor ein Adjektiv gesetzt werden: As isch uu-schöön ksii! ‚Es ist unglaublich schön gewesen‘. Dieses uu- darf semantisch nicht mit dem Präfix un-/uu- gleichgesetzt werden, das wie in der Standardsprache eher etwas Negatives ausdrückt oder Teil der Verneinung ist: Uuglück, Unglück, unglücklich, uuglücklich ‚Unglück, unglücklich’. – Es ist nun auch geläufig, uu- und huara- zu kombinieren, und zwar nur in dieser Reihenfolge: As isch uu-huara-guat ksii! ‚Es ist unglaublich extrem gut gewesen!‘ Oder: Är hät an Uu-huara-Füttla khaa! ‚Er hat einen Extrem-Riesen-Arsch gehabt‘. Oder etwas nobler: Si hät an Autoumfall khaa - ds Auto totaal ggaputt und sii an Uu-huara-Schwain, a paar Bläuala. ‚Sie hat einen Autounfall gehabt – das Auto total kaputt und sie ein Extrem-unglaubliches-Glück, ein paar Prellungen.‘
Wo die Wortgrenzen liegen, ob es sich bei Uu-huara-Schwain jetzt um ein Kompositum handelt, um eine Adjektiv-Nomen-Verbindung oder gar um eine Kollokation, das interessiert die Linguisten. Betreffend Rechtschreibung gilt in den obigen Beispielen die Intuition der Schreibenden, Regeln gibt es bekanntlich keine. Die Anwender spielen mit der Sprache und freuen sich an den vielgestaltigen Möglichkeiten.
Wenden Sie sich ruhig wieder an mich, wenn Sie weitere Fragen haben. Viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!
Ich habe eine Frage, deren Antwort mich wirlich sehr interessieren würde. In Chur wird unter Kindern und Jugendlichen oft das Wort "huara", im Sinne von "sehr" oder "extrem", verwendet. Jedoch ist dieses Wort bei den Erwachsenen nicht sehr gerne gehört, weil es scheinbar von dem Wort "Hure" abstammt. Doch ich meine einmal gelesen zu haben, dass dieses umgangsprachliche Wort "huara" einen ganz anderen Ursprung habe. Ist das wahr?
O.S.
Lieber Herr O.
Ich muss Sie 'leider' enttäuschen. - Es gibt keine vernünftige Alternative zur 'Hure', die die Herkunft des churerischen 'Huara' erklären würde.
Immer wieder hört man, dass huara sich aus unkhüür 'ungeheuer' herleiten soll. Lautgesetzlich gibt es aber keine Begründung, wie diese Verschiebung erklären liesse, abgesehen davon, dass das Wort unkhüür nicht besonders typisch Churerisch erscheint.
Es ist allerdings in der deutschen Sprache nicht so selten, dass etwas Positives oder Neutrales durch etwas Negatives verstärkt wird, denken Sie nur etwa an 'Bombenstimmung', 'Mordshunger', 'Teufelskerl' etc.
Auch das Schweizerdeutsche Wörterbuch bestätigt diesen Sachverhalt: "Vor Substst. und Adjj. (auch von günstiger Bed.) gesetzt hat es oft nur allg. verstärkende Kraft, z.B. Hueren-Glück, -schön."
Gestern haben wir unter Freunden diskutiert, ob es für Polizei / Polizischt einen typischen Khuererausdruck gibt.
Ist Polüp / Polüppa ein typischer Khurerausdruck?
Wie würde man dies schreiben? Ist Tschugger auch ein Khurerausdruck?`
Danke für die Expertenmeinung - und Kompliment für Ihre Homepage.
M.A.
Sehr geehrter Herr A.
Es gibt wohl viele Bezeichnungen für die Polizisten, aber keine ist ausschliesslich Churerdeutsch. - Ich habe mich mit Gaudenz Schmid, dem vielwissenden pensionierten Polizeibeamten in Verbindung gesetzt. Lachend hat er gesagt: "Wir wurden ja mit Vielem tituliert, aber etwas spezifisch Churerisches gab es nicht." Schmid erinnert sich an Bezeichnungen wie das von ihnen genannte Polüp, aber auch an Schroter, Tschugger oder als Kollektivbezeichnung Schmier. Das Wort Landjääger hingegen war die offizielle Bezeichnung für die Beamten der Kantonspolizei, also kein Übername. Aus der Sprache der Jenischen gibt es noch das Wort Looli.
Typisch Churerisch ist die Endung Polizei und nicht Polizai, wie man heute bisweilen hört.
Entschuldigen Sie, wenn ich mit meinem Anliegen an Sie als Khurertütsch-Fachmann gelange. Es geht dabei um unsere dicken Mauern an der Daleustrasse . Wir hatten Besuch, da sagte ich beim Essen: "Miar händ dò dicki Müüra". Mein Schwager korrigierte mich und sagte, man sage auch für die Mehrzahl Muura. Leider fiel mir kein anderes Beispiel dazu ein, inzwischen denke ich an Huus- Hüüser. - Es wäre schön, wenn sie mir so oder so helfen könnten.
Liebe Frau T.
Ihre interessante Frage wirft einige Probleme auf.
1 Zur Sprachgeschichte:
Das neuhochdeutsche Wort 'Mauer' stammt aus dem Lateinischen MURUS und wurde schon sehr früh in die deutsche Sprache integriert.
Im Althochdeutschen erscheint das Wort als mûri, mûre, mûra. Im Mittelhochdeutschen, dem direkten Vorläufer unserer Dialekte, ergeben sich dann die Formen miure (als müre ausgesprochen), mûre, mûra.
Eine dialektale Form Müür(a) ist im Singular also durchaus möglich und entsprechend lautet dann der Plural Müüra(na).
2 Zum Umlaut:
Es ist in den schweizerischen Dialekten vielfach so, dass ein umlautfähiger Vokal dann umgelautet wird, wenn weiter hinten ein i folgt. Aus Huus wird Hüüsli, aus Paul wird Päuli, aus Muur wird Müürli. Oft ist das umlautauslösende -i- heute nicht mehr erkennbar, war aber im Althochdeutschen noch vorhanden, z.B. in Huus - Hüüser, ahd. hus - husiro. Dieses Prizip der Umlautbildung trifft man aber auch in Wörtern, wo kein -i- folgt, so etwa in Balkhoon, das im Plural zu Balkhöön umgeformt werden kann. Man spricht in diesem Fall von Analogumlaut, weil das Prinzip analog auf ein anderes Wort übertragen wird. So betrachtet ist eine Pluralbildung Muur - Müüra denkbar.
3 Zum Einfluss des Rätoromanischen:
Das Romanische des Engadins hat die lateinischen langen -U- in der Regel zu -ü- umgeformt. Das Romanische der Sur- und Sutselva hat diese -ü- dann zu -i- weitergeformt. Deshalb heisst die Mauer im Engadin mür, in der Sut- und in der Surselva mir. - Der Einfluss des Engadinerromanischen auf den Churer Dialekt war im Normalfall wohl nicht besonders gross, wo aber besondere verwandtschaftliche Beziehungen vorhanden waren, ist es durchaus möglich, dass sich ein Mür in den Wortschatz eingeschlichen hat.
4 Idiotikon - Schweizerdeutsches Wörterbuch:
Das Schweizerdeutsche Wörterbuch verzeichnet in Band IV, Spalte 384 unter der Bedeutung 'Mauer' das Stichwort Müri f, Pl. Mürene, das offenbar in der Herrschaft bekannt ist/war.
5 Schweizerdeutscher Sprachatlas (SDS):
In der SDS-Karte 'Maus', die Mittlhochdeutsches -û- thematisiert, gehört Chur zur Gruppe, die die mittelhochdeutsche Form beibehalten. Einzig die Berner Ortschaften Meiringen, Innertkirchen, Guttannen und Gadmen sagen Müüs im Sg., bilden dafür dann den Plural mit Miis.
6 Vergleich mit anderen Wörtern:
Vergleichen wir das Wort Muur Sg. /Muura(na) Pl. noch mit anderen ähnlich klingenden Wörtern
Puur / Puura Bauer / Bauern
Khuur / Khuura(na) Kur / Kuren
Tuur / Tuura(na) Tour / Touren
stellen wir fest, dass es keine Formen mit langem -ü- gibt.
Fazit:
Theoretisch ist es aus verschiedenen Gründen möglich und durch den Eintrag im Idiotikon belegt, dass es für Chur bzw. das Churer Rheintal eine Form Müüra gibt. - Es erscheint aber unwahrscheinlich, dass diese Form einmal die allgemein verwendete Form gewesen ist.
Dr Kehrichkhübel, wo au Ochsnerkhübel heisst, dä waiss ii. Au ds Schwiikhübali, wo ma Räschta ina tua hät. Denn git’s ds Milchkhessali mit Teggel und Henggel. Dr Milchaimer hät ma bim Mälha bruht. Dä hät a bizzali a Büüchli gha. Di andara hend gradi Wend. Dia Dinger, wo ma in dr Khüblerei gmaht hät us Holz hend gradi oder schrägi Wend khönna ha.
Das isch das, was i vum Reda khenna. Aber geltend im Dialäggt die gliha Definitsiona wia’s im Duden schtöönt? Oder anderscht gfrògt: Hettandi miar als Khinder oder üsari Eltara so gschids Züg varschtanda?
Im Idiotikon schtön nu Beischpiil, und us dem, wo ma im Grimm findet, khumma-n ii nit drus. Wo söll i suaha?
Liaba Herr W.
Aimer isch vu miar uus hoochtütsch.
Khessel tunggt mii eender grösser als a Khübel, bim Khessali und Khübali khunnts denn aber khompliziart ... Ma sait au, gwüssi Bedütiga seiandi 'lexemgebunden', d.h. fix an as Wort punda. Regla gits denn khai, ussert eba, dass ma aswas soo sait und nit andersch. Und gwüssi Bezaichniga bruucht ma-n au an gwüssna Ort, und anderi an anderna.
Schpròòch isch halt khai Mathematigg ...
Ich melde mich wieder einmal - mit einer Frage zum Churerdeutschen. Mir - als Zürcher - fällt immer wieder auf, dass beim Plural der Verben die Formen auf -n (statt -nd) im Vormarsch sind: miar hoffen, si sèègen (statt: hoffend, sèègend). Handelt es sich bei diesem d-Schwund in erster Linie um eine Anpassung an die Schriftsprache?
Lieber Herr A.
Bereits bei den Aufnahmen von Rudolf Hotzenköcherle zur "Bündnerischen Verbformengeographie“ von 1943 stellt der Autor schwankenden Gebrauch fest. - Es könnte allerdings schon sein, dass die -d eher noch mehr geschwunden sind. Das kann mit einem Einfluss der Standardsprache zusammenhängen, ist aber auch Teil einer grundlegenden Entwicklung vom Germanischen zu den aktuellen Dialekten. Mit der Einführung der germanischen Erstsilbenbetonung sind die Endungen forlaufend geschwächt worden. In den Dialekten unterscheiden wir zum Beispiel auch kaum mehr zwischen den Fällen.
Lieber Osci
Seit drei Jahren steht an der Primarschule in R. das Schulmotto im "Dialekt": "ZÄMMA LEBA", "ZÄMMA LERNA". Mein Sprachempfinden sagt mir, dass das falsch ist. Ein Gespräch mit einer Lehrperson hat ergeben, dass die Lehrer gemeinsam entschieden haben, dass es so richtig sei. Wie heisst es deiner Meinung nach richtigt?
Lieber X.
Die Sache mit der Dialektschreibung ist so eine Sache für sich. Soll man so schreiben, dass es phonetisch möglichst genau ist? Soll man so schreiben, dass die Lesenden möglichst schnell die Bedeutung erfassen? Soll die Schreibung möglichst nahe an der Standardsprache sein? Alle Konzepte haben etwas für sich. Und manchmal werden diese Konzepte auch etwas vermischt …
Die Formulierung, wie sie in R. gebraucht wird, stellt nun gerade so ein Konzeptmischmasch dar, ist also wohl nicht ganz falsch und auch nicht ganz richtig.
Phonetisch müsste es heissen: Zämma lääba, zämma lärna. Ich für meinen Teil schriebe sogar: Zemma lääba, zemma lärna.
Die Haltung der Dialekt-Schreibenden gegenüber phonetischen Regeln ist in etwa dieselbe, die man allgemein dem Unterrichten gegenüber hat: „Das kann ja jeder!“ Interessant ist, dass gerade auch Unterrichtende sich in dieselbe Haltung begeben, wenn sie ihr eigentliches Kompetenzgebiet verlassen.
Mit einem Augenzwinkern, OE